gerfried sperl schreibt in seiner wahl-analyse im "Standard" auf Seite 26 folgendes zur (relativ) niedrigen Wahlbeteiligung von ca. 60 Prozent: "Erschütternd ist die Wahlbeteiligung. Die Nichtwähler sind mit weit über dreißig Prozent gestärkt aus dieser Wahl hervorgegangen und repräsentieren jenen Frust, den die Politik tagtäglich verursacht."
ich halte diese analyse für - gelinde gesagt - unhaltbar. nun gefällt es mir zwar überhaupt nicht, dass so viele menschen leichtfertig auf ein recht verzichten, für dessen erkämpfung unzählige ihr leben gelassen haben. ihnen allen aber "frust über die tagtägliche politik" als gemeinsam-einziges motiv zu unterstellen, ist im allgemeinen und bei dieser wahl im speziellen völlig verfehlt.
provokant und etwas übertrieben zugespitzt würde ich sogar behaupten: die wahlbeteiligung am gestrigen sonntag ist eine folge fortgeschrittener mündigkeit und politischen reflexivität großer teile der wiener bevölkerung.
gegenbeispiel: die wahlbeteiligung ist traditionell in den kleinen landgemeinden mit großer sozialer kontrolle und den seit 100 jahren immer gleichen wahlergebnissen am höchsten. ich glaube nicht, dass diese gemeinden große politische reflexivität und mündigkeit verkörpern. ebenso ist die wahlbeteiligung immer dann am höchsten, wenn "es um etwas geht", d.h. großer veränderungsbedarf oder große weltanschauliche verwerfungen bestehen. in wien war gestern das ergebnis erstens klar und keine partei wollte ernsthat etwas am wiener erfolgsmodell ändern. (das ist vielleicht auch ein fehler, nach der alten regel "success breeds failure", aber das würde hier zu weit führen.) auch folgte aus befragungen von nichtwählerInnen in oberösterreich, dass es meist gerade nicht die frustrierten sind, die auf ihr wahlrecht verzichten, sondern mit der politik im großen und ganzen zufriedene.
fazit: nichtwählerInnentum mag ein zeichen dafür sein, dass menschen generell viele rechte erst dann schätzen und wahrnehmen, wenn sie bedroht sind. das ist natürlich nicht besonders "leiwand". auf die wiener wahl umgelegt könnte das aber auch bedeuten: es sahen einfach die menschen ihre rechte ganz allgemein nicht bedroht. die nichtwählerInnen aber zur gänze ins lager der frustrierten zu verweisen, ist mit sicherheit einfach "bullshit".
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1 Kommentar:
Ich sehe das ähnlich wie du, Leo. Die Wahlbeteiligung ist eine Frage von Tradition, sowie davon, ob Leute etwas verändern wollen, aber auch, ob sie das Gefühl haben, ob sie mit den Wahlen auch wirklich etwas verändern KÖNNEN.
Gutes Beispiel ist die Wahlbeteiligung bei den Wahlen im Sommer 2004, EU und Präsidentschaft. Die letztere hat eine viel höhere Wahlbeteiligung gehabt, auch wenn sie objektiv keinesfalls wichtiger ist als erstere.
Der Unterschied war, dass die Alternativen bei der Präsidentschaftswahl klar abgegrenzt waren, zwischen Fischer und Ferrero-Waldner war ein klarer Unterschied spürbar - offensichtlich eine inhaltliche Differenz, die vielen Leuten wichtig genug war, um wählen zu gehen. Im Gegensatz dazu war nicht klar aussagbar, was Grüne, SP und VP im Europaparlament unterscheidet, und demzufolge auch nciht klar, was eine Stimme für die einen oder die anderen für einen Unterschied machen würde.
Die Ununterscheidbarkeit von Parteien (siehe auch Wahl in Deutschland, wo Lafontaine die 4 Parteien als die "Hartz IV-Parteien" bezeichnete) KANN auch ein Zeichen WählerInnenfrust sein.
Wenn Menschen das Gefühl haben, nichts ändern zu können mit ihrer Stimme KANN ein Zeichen für die Entpolitisierung der Politik sein.
Um diese Analyse für die Wien-Wahl treffen zu können, bedarf es aber tatsächlich mehr als nur eine Bezugnahme auf die Wahlbeteiligung, die ganz verschiedene Gründe haben kann. Für die Wien-Wahl kann man diese Aussage, denke ich, redlicherweise nicht treffen.
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