Donnerstag, März 07, 2013

altvorstellung VI: "Zur Theoriegeschichte der Betriebswirtschaftslehre"

in der serie altvorstellung (ausführlicher hier) geht es um bücher, die - obwohl vergriffen oder über 30 jahre alt - es wert sind, gesucht (z.b. über ZVAB) und gelesen zu werden.

diesmal: "Zur Theoriegeschichte der Betriebswirtschaftslehre" von Sönke Hundt, das 1977 als erster band der reihe "Mitbestimmung - Arbeit - Wirtschaft" im Bund-Verlag Köln erschienen und inzwischen längst vergriffen ist.
auf die idee zur lektüre dieses bands brachte mich ein student der vorlesung "Grundlagen der BWL für den Studiengang VWL Bachelor", dessen frage nach einer kritisch-ideengeschichtlichen aufarbeitung der bwl ich nicht sofort beantworten konnte. ich bin ihm zu dank verpflichtet, weil mich die darauffolgende recherche zu Hundts buch geführt hat.

ähnlich wie das in der letzten altvorstellung besprochene und vom positivismusstreit geprägte buch "Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft" von Joseph Weizenbaum, ist ausgangspunkt auch hier eine erkenntnistheoretische debatte der 1960er jahre: die Kuhn-Popper-Kontroverse. Hundt nimmt dabei in seiner rekonstruktion der betriebswirtschaftlichen theoriebildung im deutschland des 20. jahrhunderts eine wissenschaftssoziologische perspektive in Kuhnscher tradition ein. vor allem überzeugt ihn dessen argument, dass die herrschende lehre
"die Geschichte des eigenen Faches in der Weise [schreibt], daß sie ihr Paradigma sozusagen nach rückwärts projeziert und die älteren theorien als ihre eigenen Vorläufer jeweils neu interpretiert, so daß die aktuelle Wissenschaft als der Gipfel des Erreichten und Erreichbaren erscheint." (S. 16)
in einem gerade für sozialwissenschaftliche theoriebildung entscheidenden punkt geht Hundt aber über Kuhn hinaus, wenn er die gesellschaftliche bedingtheit paradigmatischer auseinandersetzungen in der wissenschaft betont. besonders eindrücklich wird das bei Hundts würdigung des werks von Eugen Schmalenbach. dessen wertdiskussion sowie fixkostentheorie versuchte einen beitrag zur (er-)klärung von hyperinflations- und deflationsproblemen zu leisten, mit denen unternehmen im deutschland der zwischenkriegszeit konfrontiert waren. ein zentrales argument Schmalenbachs war beispielsweise, dass die zunahme des fixkostenanteils deflationäre tendenzen verschärft, weil ein hoher fixkostenanteil bei nachfragerückgang strategien der produktionsausweitung impliziert - schließlich werden immer noch deckungsbeiträge erwirtschaftet.

in den stabilen wirtschaftlichen verhältnissen des wirtschaftswunder-deutschlands stellten sich diese fragen nicht mehr und Erich Gutenberg konnte in seiner paradigmatischen neubegründung der betriebswirtschaftlehre darauf verzichten, zusammenhänge zwischen einzel- und gemeinwirtschaft herzustellen.

ganz allgemein aber weist der ansatz Hundts, die dominanz bestimmter ökonomischer paradigmen zumindest teilweise auf außerwissenschaftlich-historische rahmenbedingungen zurückzuführen, starke parallelen zu den großartigen ideengeschichtlichen arbeiten des kürzlich verstorbenen Albert O. Hirschman auf. in seinem buch "The Passions and the Interests" sowie in dem aufsatz "Rival Interpretations of Market Society: Civilizing, Destructive, or Feeble?" (pdf) beschäftigte dieser sich nämlich auch mit den außerwissenschaftlichen ursachen für affirmative bzw. ablehnende positionen kapitalistisch-marktwirtschaftlichen gesellschaftskonzepten gegenüber. demnach lässt sich beispielsweise Adam Smiths positives bild eines zivilisierenden handels - die these des doux commerce - als gegenposition zu einem staatlich gelenkten, kriegslüsternen merkantilismus lesen. umgekehrt waren es die auswüchse frühkapitalistischer produktionsverhältnisse die sowohl konservative wie marxistische kritiker der marktgesellschaft auf den plan riefen. ähnlich das vorgehen von Hundt:
"Mit Kuhns Theorie als Ausgangspunkt wurde versucht, die Beschränkung auf eine nur wissenschaftimmanente Untersuchung zu durchbrechen und sozio-ökonomische Bedingungen von Wissenschaft in die Reflektion einzubeziehn."
eine perspektive, die auch bei der analyse zeitgenössisch-ökonomischer theoriebildung vielversprechend scheint. nicht unerwähnt soll schließlich noch bleiben, dass Hundt sich in seiner theoriegeschichte auch ausführlich und lesenswert mit der rolle der betriebswirtschaft im nationalsozialismus auseinandersetzt.

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